Samstag, 9. Dezember 2006

Kastriert im Kopf

Quelle: Tagesanzeiger
© Das Magazin; 25.11.2006; Nummer 47
Text: Erwin Koch
Bild: Christian Schnur

Sexualstraftäter muss man daran hindern, rückfällig zu werden. Indem man sie lebenslang wegsperrt oder indem man ihnen den Trieb chemisch nimmt. Und der, sagt Gerichtspsychiater Marc Graf, sitzt im Hirn.

Die Volksseele brodelte. Ihr liebstes Blatt schrie den «Supergau bei der Zürcher Justiz» aus, keine Zeitung im Land, keine Fernsehstation, die nicht über den Fall berichtete: Ein gewisser A. G., Mehrfachvergewaltiger, in der Strafanstalt Pöschwies verwahrt seit zehn Jahren, soll, als man ihn unbegleitet in Hafturlaub liess, rückfällig geworden sein, A. G. habe versucht, zwei Prostituierte zu nötigen.
Die Zürcher Justiz, aus aktuellem Anlass, verbot sofort und kollektiv allen Verwahrten den unbegleiteten Hafturlaub, auch jenen, die seit Jahren ihre kurze Freiheit ohne Tadel durchmessen hatten, neun Menschen.
Die Volksseele kochte gar über, als sie Wochen später erfuhr (im «Blick», «Es ist ein ungeheuerlicher Skandal!»), ein Arzt ausserhalb der Gefängnismauern, bei dem A. G. seine Krebserkrankung behandeln liess, habe dem Sexualstraftäter unter anderem Viagra verschrieben, die berühmte blaue Tablette gegen Erektionsschwierigkeiten.
Diese Idioten geben dem Arschloch noch Viagra, statt es zu kastrieren!, lärmte der Stammtisch im Mohren, Rütli oder de la Paix.
Ein Gespräch über Männer und ihre Hormone, über Sexualdelinquenz, Kastration und unter den Teppich Gekehrtes - mit jemandem, der auf einiges keine schnelle Antwort hat, Dr. Marc Graf, 44, stellvertretender Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Marc Graf sitzt vor einer hohen Bücherwand, die so hoch ist, dass er die obersten Exemplare nur über eine Leiter erreicht, unter dem Tisch schläft ein Hund, grauer Teppich, Bäume vor dem Fenster, es ist Herbst.

Soll man also Sexualstraftäter entmannen?
Was meinen Sie damit?
Die Hoden ausschalten.
Ihre Frage ist sehr allgemeiner Natur, wenn Sie die Bemerkung erlauben.
Soll man einen Mann, der mehrfach vergewaltigt hat, kastrieren, damit er für die Gesellschaft keine Gefahr mehr ist und in die sogenannte Freiheit entlassen werden kann?
Das wichtigste Geschlechtsorgan des Menschen ist das Hirn.
Das lässt sich allerdings schlecht wegmachen.
So vielschichtig und so vielfältig normale Sexualität ist, so vielschichtig und so vielfältig ist auch die Sexualdelinquenz. Es gibt unter den Sexualstraftätern dissoziale...
Was meinen Sie damit?
Solche, die kein anderes Subjekt als sich selber kennen. Die also jedes Bedürfnis, das sie haben, sofort befriedigen wollen, ohne Rücksicht auf andere. Wenn ich Geld brauche, hole ich es mir, wenn ich Sex brauche, hole ich ihn mir, und sei es mit Gewalt. Das sind die Dissozialen. Daneben gibt es Sexualstraftäter, die sind impulsiv, die haben, oft unter Alkoholeinfluss, sehr schwach ausgebildete Hemmmechanismen. Und schliesslich gibt es die fast passiv aggressiven Täter, die aggressionsgehemmten, schüchternen, unsicheren, die vielleicht sogar selber Gewalt oder Übergriffe erfahren haben und diese Kränkung dann zur Wiederherstellung von Macht zu kompensieren versuchen, durch sadistische Handlungen.
Der Stammtisch - und nicht nur der, sondern zum Beispiel auch der Aargauer Ständerat Reimann oder der französische Innenminister Sarkozy - verlangt, Sexualstraftäter seien...
Die tatsächliche Entfernung der Hoden, besser gesagt: Das Öffnen des Hodensacks und das anschliessende Auskratzen der Hodenkapseln mit einem sogenannten scharfen Löffel, um Kapseln und Sack dann wieder zuzunähen, also die chirurgische Kastration halte ich, neben allen ethischen Bedenken, nicht für sinnvoll.
Weshalb?
Gerade Männer, die aus einem gestörten Selbstwerterfahren delinquieren, die also ihre Männlichkeit beweisen wollen, indem sie Frauen unterwerfen, nötigen, vergewaltigen oder töten, ist die Hodenentfernung eine Katastrophe, ein katastrophaler Akt. Psychoanalytisch gesehen, meint Kastration die Zerstörung der Männlichkeit. Ausserdem, und das gilt auch für die chemische Variante, hat die Kastration erhebliche Nebenwirkungen. Wenn das männliche Geschlechtshormon Testosteron fehlt, beginnt sich der Körper eines Mannes zu feminisieren.
Das heisst?
Haar- und Bartwuchs verändern sich, der Körperbau, die Blutfettwerte, was zu vermehrten Thromboembolien führt, die Knochen sind weniger gut mineralisiert, Osteoporose, der Antrieb nimmt ab, der Mann wird schlapp, träge, das weibliche Geschlechtshormon Östrogen überwiegt nun im Körper des Mannes, seine Brüste wachsen, allenfalls setzt sogar Milchfluss ein. All diese Nebenwirkungen, weil Testosteron fehlt, schmälern die Lebensqualität eines Kastrierten und, ganz konkret, seine Lebenserwartung.
Darf das eine Rolle spielen, wenn es darum geht, Opfer zu verhindern?
Diese Frage muss die Gesellschaft beantworten. Gut, man kann die Nebenwirkungen einer Kastration mit geeigneten Therapien bekämpfen. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Die chirurgische Kastration, obwohl irreversibel, ist nicht so wirksam wie die moderne pharmakologische, die die Freisetzung des Hormons Testosteron im männlichen Körper unterbindet.
Wird Testosteron denn nicht in den Hoden gebildet? Gilt nicht: Hoden weg = Testosteron weg = Sexualtrieb weg?
Testosteron wird nicht nur in den Hoden gebildet, sondern auch in den Nebennierenrinden.
Lässt sich das anteilmässig aufschlüsseln?
Als Faustregel gilt, dass etwas über neunzig Prozent des männlichen Geschlechtshormons in den Leydigschen Zellen der Hoden produziert werden, der Rest in den Nebennierenrinden.
So, dass also im Körper eines Mannes, auch wenn sein Hodengewebe entfernt ist, weiterhin das Hormon Testosteron entsteht?
So ist es.
Jeder weiss, was ein Hormon ist. Aber was ist ein Hormon?
Ein Hormon ist ein körpereigener Botenstoff, der an verschiedenen Stellen im Körper produziert wird. Viele entstehen im Bereich der Nebennieren, andere zum Beispiel im Fettgewebe. Hormone leiten einen Reiz nicht direkt von Nervenzelle zu Nervenzelle weiter, sondern via Blutbahn. Darüber hinaus, und das ist wichtig im Zusammenhang mit der modernen, sogenannten chemischen Kastration, darüber hinaus gibt es Vorläuferstufen von Hormonen, die im Hirn freigesetzt werden.
Das verstehe ich nicht.
Wie gesagt: Das wichtigste Geschlechtsorgan des Menschen ist das Hirn. Eine ganz bestimmte Stelle des Hirns, der Hypothalamus, entlässt ganz bestimmte Substanzen, Vorläuferstufen von Hormonen. Die erreichen den sogenannten Portalkreislauf der Hypophyse, der Zirbeldrüse, der wiederum neue Substanzen frei setzt, unter anderem das Luteinisierende Hormon. Und dieses wiederum führt in den Leydigschen Zellen der Hoden zur Bildung von Testosteron.
Was kann Testosteron, was bewirkt es?
Testosteron, das männliche Geschlechtshormon, das in viel geringerer Konzentration auch Frauen haben, bewirkt - neben allem Körperlichen und Äusserlichen wie Körperbehaarung, Grössenwachstum, Muskulatur und so fort - auf der psychischen Ebene sexuelle Lust, aber auch ganz allgemein Leistungsfähigkeit, Aggressivität.
Wäre es dann nicht sinnvoll, statt nur gewisse Sexualstraftäter auch gewisse Gewalttäter zu entschärfen, mittels chemischer Kastration?
Das ist ein ungewöhnlicher Gedanke, den man sicher irgendwann prüfen muss. In der Behandlung von Gewalttätern, also von Menschen, die immer und immer wieder gegen andere körperliche Gewalt ausüben, ist die Forensische Psychiatrie noch weitgehend hilflos. Man hat zwar schon entsprechende Versuche unternommen, zum Beispiel mit Antidepressiva, mit Benzodiazepinen, die beruhigen, mit Mood Stabilizers, die die Stimmung stabilisieren, auch mit atypischen Neuroleptika, die man Schizophrenen gibt - alles ist irgendwie ein bisschen wirksam, aber nicht durchschlagend. Und vor allem erkennt man keinen wirklichen kausalen Zusammenhang. Es ist eher ein Schrotschuss.
Die chemische Kastration aber nicht?
Nein, die ist klar hypothesengeleitet. Aber der Gedanke, auch Gewalttätern die Produktion von Testosteron pharmakologisch zu unterbinden, hat seine Berechtigung.
Wird das schon irgendwo gemacht?
Ich kenne keinen einzigen Fall.
Nun ist aber bekannt, dass Straftäter, die chemisch kastriert sind, die Wirkung ihrer dämpfenden Medikamente aushebeln, mit Viagra oder Alkohol.
Was Sie jetzt ansprechen, ist die bisher bekannte, fast klassische medikamentöse Kastration mit einem Mittel namens Androcur. Dieses, übrigens ein Nebenprodukt zur Bekämpfung von Prostatakrebs, blockiert die Rezeptoren für Testosteron...
Rezeptoren?
Rezeptoren sind wie Schlüssellöcher. Die Botenstoffe sind die Schlüssel. Der passende Schlüssel, in unserem Fall also das Hormon Testosteron, öffnet unter normalen Umständen das Schloss, es folgt eine Reaktion: Lust, Antrieb, Aggressivität. Ein Rezeptorenblocker, hier also Androcur, führt dazu, dass der Schlüssel zwar nach wie vor ins Schloss passt, dort aber nicht gedreht werden kann, es geschieht nichts, keine Reaktion. Für nachfolgende Schlüssel ist dieses Schloss, dieser Rezeptor, besetzt, unerreichbar, es kann keine Wirkung mehr entstehen. Je mehr nun solche Schlösser blockiert sind, desto weniger wirkt das nach wie vor vorhandene Testosteron.
Es wird also nicht die Entstehung des Hormons verhindert, sondern seine Wirkung?
Genau. Es kommt zwar zu einer Minderausschüttung des Hormons, weil der Körper Reguliermechanismen besitzt, aber Testosteron wird weiterhin gebildet. Der Hormonspiegel sinkt, allerdings nicht auf null. Das Hormon ist weiterhin im Blut, aber seine Wirksamkeit am Zielorgan, das sind bestimmte Zellen in den Hoden und am Penis, ist beschränkt. Erektionsfähigkeit, Ejakulationsfähigkeit und Orgasmusfähigkeit nehmen ab.
Die klassische chemische Kastration, volkstümlich ausgedrückt, lähmt das männliche Glied, nicht aber die grundsätzliche Lust des Mannes?
Das kann man so sagen.
Und die betroffenen Männer empfinden ihren Zustand als angenehm?
Auf jeden Fall fühlen sie sich nicht mehr so getrieben wie zuvor, weniger ausgeliefert. Sie denken nicht mehr dauernd an Sex, müssen nicht mehr ständig masturbieren oder Pornografisches konsumieren. Manche allerdings empfinden ihre Dämpfung als ichfremd und unangenehm. Und wie Sie sagten: Viagra ist geeignet, die klassische chemische Kastration zu unterlaufen, Viagra ermöglicht wieder eine Erektion. Alkohol kann das Hemmende, das Reflektierende ausschalten, die präfrontalen Hemmmechanismen, die ein klassisch Kastrierter erfährt. Das können auch Kokain und Ecstasy.
Wie Gasgeben und Bremsen zugleich...
Und was dann überwiegt, lässt sich nicht voraussagen.
Läuft jeder, der einen überdurchschnittlich hohen Testosteronspiegel hat, Gefahr, irgendwann Sexualstraftäter zu werden?
Nein. Als Gruppe, als Einheit haben Sexualdelinquenten keinen höheren Spiegel als das normale Männervolk. Innerhalb dieser Gruppe hingegen weisen die Aggressiven einen höheren Spiegel auf. Die unterscheiden sich nicht hinsichtlich Sexualität von den andern, sondern bezüglich Aggression.
Ein bisschen ausführlicher...
Es ist ja oft nicht die Sexualität - in sehr engem begrifflichem Sinn - das Motiv für ein Sexualverbrechen. Oft hat der Täter nicht ein eigentliches sexuelles Bedürfnis, sondern eine Gewaltproblematik. Er vergewaltigt nicht primär aus Lust, sondern um der Frau, die er nötigt oder vergewaltigt, zu zeigen, dass er ein vollwertiger Mann sei, er handelt zuerst aus der eigenen Erfahrung des Ungenügens. Wie auch ein Exhibitionist. Wenn dann, während das Verbrechen geschieht, noch der Stress dazukommt, also Adrenalin ausgeschüttet wird - was eine Erektion erschwert -, misslingt dem Mann die Beweisführung seiner Männlichkeit, ihm widerfährt das pure Gegenteil. Häufig zwingt er dann sein Opfer, ihn manuell oder oral zu befriedigen, oder er steigert sich in gewalttätige, sadistische Handlungen hinein. Da ist kein Übermass an sexueller Lust im Spiel, sondern, so paradox dies klingt, oft ein grosses Selbstwertdefizit.
Aber das lässt sich mit einer Kastration allein nicht lösen.
Richtig.
Sondern?
Mit einer begleitenden Psychotherapie. Ich muss vorausschicken, dass keiner sich wirklich freiwillig kastrieren lässt, man darf sich in der Forensischen Psychiatrie keiner Illusion hingeben. Einem Sexualstraftäter fällt es sehr schwer, sich, erstens, einzugestehen, dass er Schlimmes, Schlechtes begangen hat, und dass er, zweitens, psychisch auffällig ist. Da spielen tief greifende Abwehrmechanismen mit. Und die zu durchbrechen im Rahmen einer Therapie ist sehr schwierig und sehr aufwändig. Ich stehe dazu, dass ein gewisser Druck auf den Delinquenten sinnvoll und nützlich ist. Man sagt ihm vielleicht: Wenn Sie diese Medikamente nehmen, können wir es verantworten, dass Sie ambulant behandelt werden. Wenn nicht, dann bleiben Sie weggeschlossen. Aber wenn sich jemand mit ganzer Kraft, vielleicht gar mit Gewalt gegen eine chemische Kastration wehrt, würde ich auf jeden Fall davon absehen.
Die begleitende Psychotherapie ist deliktorientiert?
Ganz klar. Wobei, mit Verlaub, es irgendwann keinen Sinn mehr macht, ständig und ewig über das Delikt und seine Geschichte zu reden. Zwar muss man wissen, wie es zur Tat kam, was dabei im Täter ablief, psychotherapeutisch ist die Deliktrekonstruktion relativ einfach. Aber was danach kommt, ist schwierig, nämlich die Umsetzung des Erfahrenen in Konstruktives. Der Täter muss ja ein Instrument gewinnen, das es ihm ermöglicht, ein weiteres Delikt zu verhindern.
Und wie machen Sie das?
Wie gesagt, es ist vergleichsweise schwierig. Der Täter hat meistens eine falsche Grundeinstellung zum Delikt, wir reden von kognitiven Verzerrungen. Ein Pädophiler sagt zum Beispiel: Es hat dem Kind ja nicht geschadet, hat ihm sogar Spass gemacht! Oder er sagt: Es hat dem Kind so wenig geschadet wie mir, als ich selber mit acht vergewaltigt wurde. Es braucht Zeit und Arbeit, bis der Täter auch wirklich nicht mehr Täter werden will, nicht nur, weil er kein zweites Mal ins Gefängnis will, sondern weil er niemandem mehr schaden will. Das braucht Jahre.
Lassen sich alle Sexualstraftäter psychotherapieren?
Nein, ganz klar nein.
Welche nicht?
Es gibt Täter, die nicht über hinreichende intellektuelle Fähigkeiten verfügen, also minderintelligent sind. Es gibt Täter, die eine schwer gestörte Introspektionsfähigkeit haben, also innerpsychische Prozesse nicht wahrnehmen und nicht mitteilen. Die können nur sagen: Es geht mir gut, oder ich bin depressiv. Zu mehr sind sie nicht fähig. Eine Psychotherapie ist fast nicht möglich, wenn der Therapeut nur auf äussere Beobachtungen angewiesen ist.
Was machen Sie in solchen Fällen?
Gerade dann ist eine Psychopharmakotherapie sinnvoll.
Also eine chemische Kastration?
Plus Therapie selbstverständlich, fast eine Psychoedukation.
Was ist das?
Man betreut den Patienten oder Täter, man klärt ihn auf, belehrt ihn über seine Störung - so gut es eben geht.
Und wenn gar nichts geht?
Dann muss man den Mut haben, abzubrechen. Dann ziehen wir die Notbremse, weil wir uns eingestehen, der Mann ist nicht erfolgreich therapierbar. Wir versuchen ja schon früh herauszufinden, ob jemand überhaupt therapierbar ist oder nicht. Denn wir wollen uns nicht in falscher Sicherheit fühlen. Zumal auch der Täter sich in falscher Sicherheit fühlt, wenn er therapiert wird, obwohl ihm diese Therapie nichts nützt.
Wie meinen Sie das?
Der Täter denkt dann: Also jetzt mache ich jede Woche eine Einzeltherapie, mache jede zweite Woche noch die Gruppentherapie, ich nehme die Tabletten, alles bestens, also wenn ich jetzt noch rückfällig werde, dann ist das nicht meine Schuld, sondern die der Ärzte oder der Richter.
Therapie als Vorwand, sich aus der Verantwortung zu stehlen?
Ungefähr so, ja.
Was geschieht dann?
Wenn wir merken, dass ein Täter nicht erfolgreich therapierbar
ist, kommunizieren wir das der zuständigen Behörde. Diese muss dann entscheiden, was mit dem Mann geschieht, ob aus einer ambulanten Massnahme eine stationäre wird, oder ob aus einer stationären Massnahme eine Verwahrung wird, oder ob der Mann einfach seine Zuchthausstrafe absitzt.
Werden chemisch kastrierte Sexualstraftäter weniger häufig rückfällig als solche, die nicht kastriert sind?
Eine sehr schwierige Frage. Weil es dazu sehr viele verschiedene Zahlen gibt. Gäbe es eine schnelle Antwort, ich gäbe sie Ihnen. Als Faustregel gilt, dass bei einer adäquaten forensisch-psychiatrischen Behandlung, lege artis und nach neustem Stand durchgeführt - also Psychotherapie wo nötig, also Psychopharmakotherapie wo nötig -, dass sich damit die Rückfallquote ungefähr halbieren lässt.
Und in Zahlen ausgedrückt?
Die variieren von Deliktart zu Deliktart. Die Rückfallquote ist am höchsten bei homosexuellen Pädophilen, höher als bei heterosexuellen Pädophilen, höher auch als bei Vergewaltigern. Die Zahlen variieren aber auch von Störungskategorie zu Störungskategorie. Die höchste Rückfallquote haben Persönlichkeitsgestörte, die zudem noch Suchtmittel konsumieren und darüber hinaus eine sexuelle Perversion haben wie zum Beispiel Sadismus - Sie sehen, Ihre Frage ist schwierig zu beantworten. Eine Studie des deutschen Bundeskriminalamts in Wiesbaden, und die ist auf Schweizer Verhältnisse wohl übertragbar, besagt, dass von sämtlichen aus dem Gefängnis entlassenen Vergewaltigern zwanzig Prozent innerhalb von fünf Jahren wieder wegen eines Sexualdelikts verurteilt werden.
Das ist viel.
Das ist sehr viel, viel zu viel, jeder Fünfte. Und das sind nur die, die erwischt und wieder verurteilt werden. In der Tat sind es wohl mehr als zwanzig Prozent.
Nun gelten Sie, Marc Graf...
Wenn ich noch etwas hinzufügen darf, etwas Persönliches, ein Gedankenexperiment. Wenn man sich, die Rückfallquote sämtlicher Vergewaltiger vor Augen, vorstellt, zum Zeitpunkt, da ein Vergewaltiger aus dem Gefängnis kommt, sei das potenzielle Opfer bereits bekannt, man wüsste also, diese Frau Soundso wird nun mit der Wahrscheinlichkeit von zwanzig Prozent im Lauf der kommenden fünf Jahre vergewaltigt, wenn man sich das vorstellen könnte, dann würde kein Richter diesen Mann je in Freiheit schicken. Weil wir dies aber nicht können - denn wir wissen ja nicht, wer dieses potenzielle Opfer ist und wer von fünf Entlassenen der Täter -, entlassen wir alle. Das ist das normale gewöhnliche alltägliche Risiko, über das keiner redet. Die Öffentlichkeit redet über Sexualstraftäter, die in den Medien immer wieder herausgestellt werden, Ferrari, Osterwalder oder Hauert, nicht aber über die zahllosen unbekannten Vergewaltiger. Und wenn man dann noch bedenkt, dass fast achtzig Prozent der Sexualdelikte im sozialen Nahfeld des Täters geschehen, also in der Familie, in der Verwandtschaft, unter Bekannten, dann schränkt sich der Kreis der potenziellen Opfer stark ein. Ich meine, dieser Aspekt wird in unserer Gesellschaft viel zu wenig besprochen. Da versagen wir als Gesellschaft. Da sind wir, als Gesellschaft, inkompetent. Die ethische Diskussion darüber muss irgendwann stattfinden.
Soll man also alle Vergewaltiger - weil jeder Fünfte wieder vergewaltigen wird - für den Rest ihrer Tage wegsperren?
Ich weiss es nicht. Soll man einen Zwanzigjährigen, der eine Frau vergewaltigt hat, für immer ins Gefängnis stecken? Oder ihn allenfalls erst wieder in Freiheit setzen, wenn er nicht mehr gehen kann, mit 85? Das sind Fragen, die nicht die Psychiatrie beantworten kann und muss, sondern die Gesellschaft. Was für die Gesellschaft tragbar ist, ist keine medizinische Fragestellung. ·
Aber die Gesellschaft regt sich nur, wenn einer fälschlich Viagra verschrieben bekommt.
Wobei es im Einzelfall durchaus Sinn machen kann, einem Sexualstraftäter Viagra zu geben. Dann zum Beispiel, wenn es sich um einen Mann handelt, der über lange Zeit frustriert war, sich minderwertig vorkam und nun, vielleicht in einer festen Beziehung, endlich einmal eine wirkliche Erektion haben kann, dank Viagra. Viagra, so weit wir wissen, hat keine zentralnervöse Wirkung, die Lust und sexuelle Fantasien auslöst, Viagra führt dazu, dass die Schwellkörper des Penis sich mit Blut füllen.
Nun gelten Sie,
Marc Graf, hierzulande als Pionier einer neuen und wirksameren Form der pharmakologischen Kastration...
Ich möchte nicht, dass das so dargestellt wird. Die Behandlung von Sexualstraftätern geschieht immer im Team. Professor Dittmann, mein Chef, machte mich vor Jahren auf diese Therapieform aufmerksam. Und im Team unserer forensischen Ambulanz haben wir dann die ersten therapeutischen Erfahrungen gesammelt.
Sie spritzen einigen Sexualstraftätern alle drei Monate ein Präparat in Bauch oder Oberschenkel...
Die Substanz heisst Leuprorelinacetat und wirkt, anders als bei der klassischen chemischen Kastration mit Androcur, zerebral, also im Hirn und nicht in den Hoden. Leuprorelinacetat blockiert bereits die Vorläufersubstanzen von Testosteron, macht also, dass gar kein Testosteron mehr entsteht.
Wie geschieht das?
Der Vorgang ist komplex. Das Mittel, das wir verwenden, ist ein sogenanntes LHRH-Analogon, LHRH meint Luteinizing Hormone-Releasing Hormone, ein Peptid mit neun Aminosäuren. Menschliches LHRH hat zehn Aminosäuren - die beiden Stoffe sind sich also fast gleich. Nun ist der menschliche Körper mit verschiedensten Kontrollmechanismen ausgestattet, die seinem Zentralorgan, dem Hirn, mitteilen, wie viel von einem Stoff vorhanden ist. Wenn wir jetzt einem Patienten dieses Medikament ins Fettgewebe spritzen - und wir müssen das Mittel spritzen, weil es, oral verabreicht, im Magen verdaut würde -, wenn wir das Präparat spritzen, entsteht im Fettgewebe ein Depot. Dort setzt sich das Mittel frei. Die Hypophyse im Hirn wird sozusagen überlistet, weil sie wegen der ähnlichen Molekularstruktur annimmt, es sei im Körper zu viel LHRH vorhanden, es entsteht, etwas einfach ausgedrückt, eine Rückkoppelung, die Zahl der Rezeptoren...
Der Schlüssellöcher?
Ja, die Zahl der Schlüssellöcher an der Zelloberfläche der Hypophyse nimmt ab, sie bilden sich zurück, der Körper erkennt, es gibt viel zu viel von diesem Stoff.
Also entsteht im Körper des Patienten überhaupt kein Testosteron mehr, weder in den Hoden, in den Nebennierenrinden noch sonst wo?
Er ist auf null, gewissermassen.
Und wie fühlt sich ein solcherart Kastrierter?
Sie erleben die Massnahme als positiv. Was sie zuvor, mit der klassischen Methode mittels Androcur, als fremd und aufgesetzt empfanden. Weil die Lust ja teilweise noch vorhanden war. Aber das Können nicht mehr.
Ein Wundermittel?
Das Medikament hat, soweit wir bisher sehen, nur Vorteile. Zwar ist eine Spritze relativ teuer, 1000 Franken alle drei Monate, 4000 Franken im Jahr. Plus die intensive Betreuung, körperlich, psychisch. Anderseits kostet ein Tag in einem Heim oder in einem Gefängnis schnell 300 bis 400 Franken, ein Tag in einer spezialisierten forensischen Abteilung kostet 900 bis 1200 Franken. Wenn wir, indem wir das Mittel spritzen, einem Patienten jährlich nur schon eine Woche Hospitalisation ersparen, sind die Kosten wieder unter Dach.
Wie viele Männer behandeln sie aktuell mit dem neuen Präparat?
Fünf. Vier Vergewaltiger respektive Pädophile. Einer, geistig behindert und vormundschaftlich zugewiesen, ist nicht straffällig geworden.
Lassen sich mit Leuprorelinacetat alle Sexualstraftäter erfolgreich behandeln?
Nein. Nur die, die in einem engeren Sinn eine Hypersexualität entwickelt haben, also einen gesteigerten Sexualtrieb. Es lassen sich mit Leuprorelinacetat jene behandeln, die eine starke Impulsivität an den Tag legen, die aggressiv werden. Es lassen sich aber wahrscheinlich - doch da haben wir noch zu wenige Daten -, nicht behandeln die narzisstisch Gestörten, also die mit einem schwer gestörten Selbstwerterleben, die, indem sie delinquieren, ihre Männlichkeit beweisen wollen, und es lassen sich damit wahrscheinlich auch die sexuellen Sadisten nicht erfolgreich behandeln.
Was geschieht mit diesen?
Was geschieht mit diesen? Wir müssen meiner Meinung nach nicht mehr darüber diskutieren, ob wir, die Gesellschaft, jemanden, der mehrere schlimme Vergewaltigungen oder Sexualmorde begangen hat, je wieder in Freiheit entlassen. Das sind Menschen, die durch ihre Handlungen bewiesen haben, zu was sie fähig sind. Wenn Sie sich zwei Waagschalen vorstellen und die erste füllen mit dem Risiko, dass einer wieder rückfällig wird, und die zweite mit allen Argumenten, dass dem wahrscheinlich nicht mehr so sein wird - ich glaube, dass wir in den allerwenigsten dieser Fälle, Hochrisikofälle, in der Lage sind, das Risiko, durch Evidenz, gewonnen aus einer Therapie, aufzuwiegen.
Eine Kapitulation der Psychiatrie?
Vielmehr ein Eingeständnis. Wenn ein Täter einigermassen intelligent und sozialkompetent ist und Sie, als Psychiater, diese Person während Jahren behandeln, dann wissen Sie letztendlich nicht mehr: Was ist tatsächliche Veränderung an und in der Person und was ist Artefakt durch Therapie. Diese Patienten wissen ganz genau, welche Antworten sie geben müssen und welche nicht, wie sie sich geben müssen und wie nicht, wie sie auftreten müssen, wie sich fühlen. Diese Abwägung zu machen, das ist bei diesen Fällen fast nicht mehr möglich.
Die Justiz, die wir wählen, geht vom Gegenteil aus.
Ja. ·


Erwin Koch ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins» (erwinkoch@bluewin.ch).
Christian Schnur arbeitet regelmässig für das «Magazin» (schnur@balcab.ch).
Gerichtspsychiater Marc Graf: «Als Arzt muss man wissen, wann die Grenzen der Therapierbarkeit erreicht sind.»

Quelle: Tagesanzeiger © Das Magazin; 25.11.2006; Nummer 47; Seite 38